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Die Präzision der mündlichen Koran-Überlieferung

Hamed Abdel-Samad und FAGULON


In westlichen Gesellschaften ist die Überzeugung fest verankert, dass nur schriftliche Überlieferungen verlässliche Quellen der Vergangenheit sind. Man beruft sich darauf, dass alle kulturell hochstehenden Gesellschaften Schriften entwickelt haben. So entstanden eindeutige Zeugnisse des religiösen, politischen und kulturellen Denkens und Schaffens. Das begann bereits vor einigen tausend Jahren z.B. mit den ägyptischen Hieroglyphen und hat sich in allen hochstehenden Gesellschaften bewährt. Also lag es nahe, der mündlichen Überlieferung in Gesellschaften ohne Schriftsprache eine geringe Bedeutung und Zuverlässigkeit zuzuweisen. Man denkt dabei oft an das Spiel "Stille Post", wo einer dem anderen einen Satz ins Ohr flüstert und bereits nach 8-10 solcher Übermittelungen ein völlig verkrüppelter Satz herauskommt, dessen Sinn kaum Ähnlichkeit mit dem Original hat. Bei den mündlichen Überlieferungen von Gesängen und Geschichten in Afrika, Südamerika und in ähnlichen Stammeskulturen ist nicht nachprüfbar, wie präzise diese von einer zur anderen Generation weitergegeben werden. Es gibt ja keine schriftliche Urform, die als Vergleich dienen könnte. Anders ist dies beim Koran, wobei sich trotz seiner Länge und Kompliziertheit Überraschendes offenbart.


Zitat

Die älteste Koran-Handschrift, die alle Suren des Koran umfasst, stammt aus dem 9. Jahrhundert. Sie befindet sich in einem Museum für Handschriften in Kairo. Die Tatsache, dass die ältesten Korantexte erst lange nach Mohameds Tod verschriftlicht wurden, bedeutet nicht unbedingt, dass auch der Koran erst nach Mohameds Ableben entstanden ist. Denn ein Text kann lange vor seiner Verschriftlichung existieren. Gerade in einer Gesellschaft, die sich fast ausschließlich auf die mündliche Überlieferung verlässt, ist dies oft der Fall. Ich stamme aus einem Dorf im Nildelta, das schon zu Pharaonenzeiten existierte. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es im Dorf keine einzige Koranausgabe, weder gedruckt noch als handschriftliche Übertragung.


Und doch lebten dort über zwanzig Menschen, die den gesamten Koran auswendig kannten und an Koranschulen lehrten. Zwei von ihnen waren blind. Hunderte kannten wenigstens Teile des Koran auswendig, obwohl sie weder lesen noch schreiben konnten. Auch ich lernte den gesamten Koran als Kind auswendig, ohne jemals den entsprechenden Text vor mir gehabt zu haben. Für Wissenschaftler, die die Existenz eines Textes nur anhand von Manuskripten nachweisen können, existierte in meinem Heimatdorf bis Mitte des 20. Jahrhunderts gar kein Koran, da davor kein geschriebener Text dort aufzufinden war.


Entweder gab es frühere Koran-Manuskripte aus der Zeit Mohameds oder 'Uthmāns, die später beseitigt wurden, als die Umayyaden ihre offizielle Version des Koran präsentierten, oder der Koran blieb eine mündliche Tradition, bis die arabische Sprache sich in der Umayyaden-Zeit entwickelt hatte. Es ist nicht auszuschließen, dass die Umayyaden einige Stellen des Koran zu ihren Gunsten verändert haben. Das kann man sogar bei den vier Kalifen nach Mohamed nicht ausschließen, war es doch eine Zeit voller Konflikte und Bürgerkriege. Da der Urtext ohne Vokalisierung und ohne Punkte war, ließ ein Wort oft mehrere Lesarten zu Ein Beispiel: Betrachten wir das Wort rabbi, mein Gott. Setzt man einen Punkt über den ersten Buchtstaben r ), entsteht ein völlig anderes Wort. Es liest sich dann zebbi und würde bedeuten: mein Penis.


Zitat aus:

Mohamed, Ein Abrechnung, Hamed Abdel-Samad, Droemer-Verlag 2015, Seite 156-157

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