Es gibt ein tiefes menschliches Verlangen nach Glaube, nach ewigen Gewissheiten und nach einfachen Richtlinien für ein gutes Leben und richtiges Denken. In den USA haben die verschiedenen christlichen Glaubensrichtungen und der ständige Bezug auf Gott in Politik und Gesellschaft eine große Kraft. In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern, die nach 1945 weitgehend sekular wurden, ist der Islam zu einer alles beherrschenden Kraft geworden. Als die Ersatz-Religion der Sozialismus kollabierte, hinterließ sie ein Vakuum der Glaubens. In vielen dieser Ländern hat das Christentum wieder diese Lücke gefüllt.
In den Industriestaaten Europas ist das anders. Hier haben quasi-religiöse Überzeugungen hinsichtlich sozialer Gerechtigkeit, des Genderismus und der Umwelt die Stelle der alten Religionen eingenommen. All diesen Entwicklungen ist gemeinsam, dass die moderne Industrie- und Informationsgesellschaft so komplex geworden ist, dass es für die meisten Menschen unmöglich ist, sie zu verstehen. Also wird die alte Sehnsucht ausgelöst, die auch die Religionen beflügelt: Man will eine einfache Unterscheidung zwischen gut und böse, falsch und richtig. Wenn man sich dann noch über die Ungläubigen erheben kann, sich besser und einsichtsvoller als diese fühlen kann, entsteht ein zusätzlicher Antrieb. So kettet man sich an Bäume, blockiert Schienen und schwänzt die Schule. Diese Gemeinschaften der Guten nutzen jede Gelegenheit, ihre Verachtung gegenüber den Ungläubigen auszudrücken, selbst wenn sie von einem geistig behinderten, aber professionell ferngesteuerten Teenager angeführt werden.
Zitat 1: "Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit markiert den Abschied von der liberalen Gesellschaft. Und es gibt heute kaum mehr Politiker, die nicht im Namen der sozialen Gerechtigkeit agieren. Niemand kann den Begriff definieren, aber gerade deshalb funktioniert er so gut als Flagge des Gutmenschen, als Chiffre für die richtigen moralischen Gefühle. In dieser Frage erlaubt sich unsere restlos aufgeklärte Gesellschaft eine letzte große Mystifikation, den Appell an ein unkommunizierbares Gefühl. Soziale Gerechtigkeit ersetzt das Heilige. Fast jeder erkennt ja Ungerechtigkeit, wenn er sie sieht oder erlebt, aber fast niemand kann sagen, was Gerechtigkeit ist. Die Theorie der Gerechtigkeit ist die negative Theologie des Rechts; auch die Jurisprudenz hat also ihren verborgenen Gott. Jede Gesellschaft sakralisiert ihre Gerechtigkeitsprinzipien - und wehrt sich deshalb gegen ihre Analyse. …
Mehr Gleichheit durch Umverteilung scheint deshalb die selbstverständlichste politische Forderung zu sein, und tagtäglich findet sie in den Massenmedien Resonanz. Sie reduzieren uns Zuschauer, Hörer und Leser auf das bloße Erleben: Wir müssen zusehen, wie andere entscheiden, genießen und leiden. Und wenn andere entscheiden, werden wir zu Betroffenen. Wenn andere genießen, halten wir uns für benachteiligt. Wenn andere leiden, ist uns das unerträglich. Die Massenmedien zeigen täglich nicht nur den Armen den Reichtum des Westens, sondern auch uns Wohlstandsbürgern den Reichtum der Superreichen. Rasch zeigt sich da unsere Toleranz gegenüber dem Reichtum anderer überfordert. Bei der Wahrnehmung der Ungleichheit ist ja der Filter der Stände und Kasten weggefallen - jeder ist ein Mensch wie du und ich. Und das macht jede Ungleichheit tendenziell zum Skandal. Der soziale Vergleich erzeugt Neid und lässt die Erwartungen explodieren."
Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, Wilhelm Fink Verlag, München, 2009, Seite 8
Zitat 2: "Die Medien inszenieren den Skandal als demokratischen Schauprozess, den die Zuschauer lustvoll konsumieren. Der dort zumeist erhobene Ton ist nicht der Ton der Kritik, sondern der modischen Wut. Das erspart die Überzeugungsarbeit. Entrüstung gilt als Echtheitsbeweis. Wer früher kritisch war, ist heute wutschnaubend. Das funktioniert natürlich nur, weil es von der Mediendemokratie prämiert wird. Wut ist so demokratisch wie Angst jeder kann sie ausdrücken. Die meisten Menschen können nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, aber sie haben ein sehr genaues Empfinden für Ungerechtigkeiten. Offenbar genügt uns aber der Kampf gegen evidente Ungerechtigkeiten nicht. Ein Grund dafür liegt sicher auch im medialen Trommelfeuer der Gerechtigkeitsrhetorik. Soziale Gerechtigkeit durch „mehr Gleichheit“ ist heute ein Wert, dem man nicht nicht zustimmen kann - der Konsensbegriff Nr.1. Hier gibt es keinen Diskussionsbedarf mehr. Wie konnte es dazu kommen?
Es gibt eine berechtigte Leidenschaft für die Gleichheit, die die Menschen anspornt, sich um die Anerkennung und Achtung von ihresgleichen zu bemühen - man könnte sagen: eine Leidenschaft für die Gleichheit aus Stärke. Aber es gibt auch eine Leidenschaft für die
Gleichheit aus Schwäche, wo die Schwachen versuchen, die Starken auf ihr Niveau herabzuziehen. Und in dieser Gleichheitssucht steckt die größte Gefahr der modernen Demokratie, nämlich die Verlockung, einer Ungleichheit in Freiheit die Gleichheit in der Knechtschaft vorzuziehen."
Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, Wilhelm Fink Verlag, München, 2009, Seite 9
Zitat 3: "So entstand eine ökumenische Liebesreligion des Mitleids und der Toleranz. Der Reiche ist seither der Sündenbock. Und tatsächlich kann wohl nur ein ungeheures Schuldbewusstsein den Erfolg der Ökos, Multikultis und Antikapitalisten in der westlichen Welt erklären. „Das Soziale“ ist der Gottesersatz unserer Zeit. Wer nach einem zeitgemäßen Glaubenssystem sucht, findet es hier. Es kultiviert den Krisenstolz als neuen Sündenstolz. Früher hätte man gesagt, dass es Ungleichheit gibt, weil es Schicksal gibt: Glück ohne Verdienst, Verhängnis ohne Schuld. Das kann man nur meistern, indem man es anerkennt. Und das ist eine Frage der Theodizee, nicht der Sozialpolitik. Doch die modernen Massenmedien pflegen das primitive Denken, das allem Geschehen eine Ursache und jeder Ursache einen Schuldigen zuschreibt. …
Und das Entrüstungsvergnügen, das die sozialkritischen Sendungen anbieten, stellt sich nicht nur auf der Seite der Zuschauer, sondern auch auf der Seite der ins Bild gesetzten Benachteiligten ein; sie genießen das Sich-Beklagen als Lebensreiz der Schlechtweggekommenen. In den Medien zu sehen, dass Gerechtigkeit geschieht, ruft eine
Art Soziallust hervor. Und nicht nur im Unterhaltungsprogramm bietet das Fernsehen die soziale Lust der Moralität.
Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, Wilhelm Fink Verlag, München, 2009, Seite 68
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