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Soziale Gerechtigkeit als undefinierter Religionsersatz

Norbert Bolz und FAGULON

Auf tausenden Wahlplakaten und in ebenso vielen vorwurfsvollen und aufrüttelnden Artikeln und Reden wird die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit erhoben. Allerdings stellt sich niemand der schwierigen Aufgabe zu definieren, was denn dieses heilige Wort eigentlich bedeutet. Man müsste sich nämlich dann auch den großen Unterschieden in Begabung, Fleiß und Ausdauer bei den Menschen zuwenden. Diese Eigenschaften sind in unserer Zeit die eigentliche Triebkraft der Entwicklung der Gesellschaft, wie uns die ostasiatischen Länder in beeindruckender Weise zeigen.


Über die unausrottbare Ungerechtigkeit von überwiegend ererbter Begabung und charakterlicher Veranlagung wird aber der Mantel des politisch korrekten Schweigens gelegt. Man müsste zudem die Frage nach der individuellen Schuld für das Versagen oder das Zurückbleiben von Menschen auf ihrem Lebensweg stellen. Wo waren Faulheit, Leichtfertigkeit, Verantwortungslosigkeit u.ä. die eigentlichen Ursachen, obwohl die Gesellschaft und/oder Familie viele Hilfestellungen bereit hielt?


Zudem wäre noch die Frage nach den Kriterien für individuelles Glück zu stellen. Hier entfernt man sich von den leicht messbaren Parametern wie Einkommen und Besitz und würde schnell feststellen, dass viele der "sozial Benachteiligten" in ihren persönlichen Lebensumständen viel glücklicher sind als die angeblich Privilegierten. Aus dieser Perspektive kehren sich die Verhältnisse schnell um. Ein gestresster Millionär, der nach der vierten Ehe und im schnellen Konkurrenzkampf des Marktes seelisch verschlissen ist, müsste also viel eher als sozial benachteiligt angesehen werden als der glückliche Familienvater mit einfachem Beruf und geringem Einkommen. Norbert Bolz sagt dazu Folgendes:


Zitat:

"Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit markiert den Abschied von der liberalen Gesellschaft. Und es gibt heute kaum mehr Politiker, die nicht im Namen der sozialen Gerechtigkeit agieren. Niemand kann den Begriff definieren, aber gerade deshalb funktioniert er so gut als Flagge des Gutmenschen, als Chiffre für die richtigen moralischen Gefühle. In dieser Frage erlaubt sich unsere restlos aufgeklärte Gesellschaft eine letzte große Mystifikation, den Appell an ein unkommunizierbares Gefühl.

Soziale Gerechtigkeit ersetzt das Heilige. Fast jeder erkennt ja Ungerechtigkeit, wenn er sie sieht oder erlebt, aber fast niemand kann sagen, was Gerechtigkeit ist. Die Theorie der Gerechtigkeit ist die negative Theologie des Rechts; auch die Jurisprudenz hat also ihren verborgenen Gott. Jede Gesellschaft sakralisiert ihre Gerechtigkeitsprinzipien - und wehrt sich deshalb gegen ihre Analyse. …


Mehr Gleichheit durch Umverteilung scheint deshalb die selbstverständlichste politische Forderung zu sein, und tagtäglich findet sie in den Massenmedien Resonanz. Sie reduzieren uns Zuschauer, Hörer und Leser auf das bloße Erleben: Wir müssen zusehen, wie andere entscheiden, genießen und leiden. Und wenn andere entscheiden, werden wir zu Betroffenen. Wenn andere genießen, halten wir uns für benachteiligt. Wenn andere leiden, ist uns das unerträglich.


Die Massenmedien zeigen täglich nicht nur den Armen den Reichtum des Westens, sondern auch uns Wohlstandsbürgern den Reichtum der Superreichen. Rasch zeigt sich da unsere Toleranz gegenüber dem Reichtum anderer überfordert. Bei der Wahrnehmung der Ungleichheit ist ja der Filter der Stände und Kasten weggefallen - jeder ist ein Mensch wie du und ich. Und das macht jede Ungleichheit tendenziell zum Skandal. Der soziale Vergleich erzeugt Neid und lässt die Erwartungen explodieren."

Norbert Bolz, Diskurs über die Ungleichheit, Wilhelm Fink Verlag, München, 2009, Seite 8


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