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  • Jens Gnisa und FAGULON

Strafverfahren: Der Schwarm ist nicht beherrschbar


Einerseits ist es sicherlich gut, dass in Deutschland nicht das fragwürdige System des "Plea Bargain" angewandt wird, welches in den USA dazu führt, dass fast alle Verhafteten auch verurteilt werden. So werden viele Unschuldige erpresst, eine gewisse Schuld einzuräumen, nur um der Rachsucht der Staatsanwälte zu entgehen, die im Falle eines förmlichen Prozesses dem Angeklagten in der Regel eine Fülle zusätzlicher Verfehlungen vor die Füße werfen und so oft eine viel höhere Strafe erwirken können.


Andererseits ist die Fülle der Strafverfahren mit dem vorhandenen System und Personal einfach nicht zu bewältigen. Daraus erwachsen natürlich andere Ungerechtigkeiten. Auch deshalb hat Gnisa, seinem Buch einen provokanten Titel gegeben. Dieser ist besonders berechtigt, wenn man die enorm hohe Zahl von nicht ausgeführten Haftbefehlen verurteilter Straftäter und die Ignoranz gegenüber Straftaten von Migranten bzw. die oft unerklärliche Milde von Urteilen bei diesem Personenkreis betrachtet.


Zitat 1: "In Deutschland fehlen Stellen für rund 2000 Richter und Staatsanwälte. Das schlägt sich in der Arbeit nieder. Denn Fälle, in denen der Täter in Untersuchungshaft sitzt, müssen vorrangig bearbeitet werden. Da muss man, um das Dezernat überhaupt noch zu bewältigen, die kleineren Dinge einstellen, wo es vertretbar ist. Zum Teil haben die Justizministerien den Staatsanwaltschaften Vorgaben gemacht, wann eine Straftat überhaupt verfolgt werden muss. Diebstahl geringwertiger Sachen eines Ersttäters wird deshalb fast immer auf dem Papierweg von der Staatsanwaltschaft eingestellt, ebenso der Konsum weicher Drogen in geringer Menge. Das alles lässt sich auch statistisch festmachen.


Im Jahr 2015 gab es rund 3,5 Millionen Strafverfahren gegen unbekannte Täter - die werden ohnehin eingestellt und rund fünf Millionen weiterer Verfahren, in denen ermittelt wurde. Von diesen fünf Millionen Verfahren kam es nur bei rund 428000 zu einer Anklage, also bei rund acht Prozent. Ein ähnlich hoher Prozentsatz, 542 000 Verfahren, führten zu einem Strafbefehl, also einem schriftlichen Urteil durch das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft, gegen das Einspruch eingelegt werden kann.


Etwa 1,3 Millionen Verfahren wurden eingestellt, weil sich kein Tatverdacht ergab. Rund 1,6 Millionen wurden aber immerhin nach dem oben beschriebenen Ermessen mit oder ohne Auflage - in erster Linie Geldbußen und Arbeitsauflagen - eingestellt. Dies waren fast durchweg Bagatelldelikte. Ein Drittel der Delikte wird jährlich also durch die Staatsanwaltschaft eingestellt - ein großer Anteil.


Der Eindruck des Bürgers trügt nicht: Die Strafjustiz zieht sich zurück, wenn dieser ein konkretes Anliegen im Alltag hat."

Jens Gnisa, Das Ende der Gerechtigkeit, Ein Richter schlägt Alarm, Verlag Herder, 2017, Seite 189


Zitat 2: "Im Zuge des Flüchtlingszustroms wurden sogar einige Kriminalitätsbereiche weitgehend aufgegeben. Die unerlaubte Einreise beispielsweise - eine Straftat wurde vorübergehend nicht mehr verfolgt, sondern fast durchweg wegen geringer Schuld eingestellt. Die eigentlich vorgeschriebene Einzelfallprüfung blieb weitgehend aus. Sogar die Bundeskanzlerin fand den Umstand, dass überhaupt noch Strafverfahren eingeleitet werden, merkwürdig. Das steht allerdings so im Gesetz: Wenn eine Straftat begangen wurde, müssen die Verfolgungsbehörden einschreiten. Das ist das Legalitätsprinzip. Den Juristen erstaunt also eher das Erstaunen.....


Die Justiz schränkt ihren Anspruch zur Wahrheitssuche ein. Sie muss das tun, weil sie sonst der Verfahren nicht mehr Herr wird. Doch die Wahrheit ist unveräußerlich, deshalb halte ich diese Entwicklung für sehr problematisch. Kommt es schließlich zum Urteil, wird es oft nur verzögert vollstreckt.


Ende 2015 gab es noch 107 141 offene Haftbefehle, wie eine Sprecherin des Bundeskriminalamts einräumen musste. Nach anderen Berechnungen sind es sogar 150000. Darunter sind auch viele Täter, die wegen Kapitalverbrechen verurteilt wurden. Diese Zahl ist viel zu hoch.


Im Durchschnitt benötigt die Polizei 280 Tage, um die Straftäter aufgrund des Haftbefehls aufzuspüren und doch noch festzunehmen. Manche verschwinden ganz. Ein gewaltiger Gefahrenherd und auch pädagogisch völlig verfehlt: Strafe muss auf dem Fuße folgen."

Jens Gnisa, Das Ende der Gerechtigkeit, Ein Richter schlägt Alarm, Verlag Herder, 2017, Seite 190



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