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  • Hamed Abdel-Samad und FAGULON

Die drei Formen der Radikalisierung von Muslimen




Natürlich ist der Weg jedes radikalisierten Muslim ein individueller. Er wird neben den religiösen Regeln und Glaubenssätzen von seinen persönlichen Eigenschaften ebenso geprägt wie von seinem Umfeld und seinen Erfahrungen und Enttäuschungen. Zusätzlich spielen sicherlich Vorbilder ebenso so eine Rolle wie der Gruppenzwang, der entsteht, wenn man sich erst einmal in eine islamistische Gruppe begeben hat. Oft ist es dort genauso wie bei den kriminellen Straßengangs und Mafia-Organisationen: Wer einmal in diesen Kreis eingetreten ist, kommt kaum wieder heraus. Er gilt schnell als (potenzieller) Verräter und muss um sein Leben fürchten. Abdel-Samad hat versucht, in dieser komplexen Gemengelage von Motiven dennoch einige Strukturen zu finden, die immer wieder zu beobachten sind:


Zitat:

"In einer Studie, die ich 2006 über die Radikalisierung von jungen Muslimen in Deutschland veröffentlicht habe, unterscheide ich zwischen drei Formen dieser Radikalisierung:


Da gibt es zunächst den archaischen Konservatismus, eine Tendenz, die häufig bei Migrantengruppen vorkommt, die aus ländlichen, patriarchalisch geprägten Regionen

stammen, in denen der Bildungsstand niedrig ist und archaische Stammesgesetze angewendet werden. Diese Form des Konservatismus beruht nicht notwendigerweise auf religiösen Überzeugungen. Wohl aber wird die Religion häufig instrumentalisiert, um Ansichten und Handlungen zu rechtfertigen. Die Gewalt, die in dieser Atmosphäre entsteht, ist für gewöhnlich nicht gegen das Gastland gerichtet. Vielmehr geraten die » Abtrünnigen« dieser Diaspora-Gemeinschaft ins Visier. Sie werden Opfer vor allem familiärer Gewalt, weil sie angeblich den Ruf, die Integrität und Stabilität der Familie gefährden. Vor allem Frauen sind davon betroffen. Auswüchse dieser Form der Radikalisierung sind Ehrenmord und Zwangsheirat. Charakteristisch für diese Milieus sind Forderungen nach bedingungsloser Solidarität und strenge soziale und/oder moralische Kontrolle.


Junge Menschen, die in schwachen sozialen Strukturen aufwachsen, sind besonders anfällig für eine Form der Radikalisierung, die ich als Eskapismus bezeichnen möchte. Hier ist weder die eigene Familie noch die Gastgesellschaft in der Lage, ein adäquates Lebensmodell anzubieten. Frustration, Ausgrenzung und mangelnde berufliche Perspektiven sind Gründe dafür, dass sich vor allem junge Männer zu Banden zusammenrotten und auf kurz oder lang kriminell oder gewalttätig werden. Die Gruppe gibt Halt, man ist jemand. Ob in Berlin-Neukölln, im Stadtviertel Nørrebro in Kopenhagen oder im schwedischen Malmö, ob in Brüssel, in Birmingham oder in der Banlieue von Paris - überall trifft man auf dieses Phänomen. Auch hier muss nicht unbedingt die Religion entscheidend sein, Hauptmotor ist oft die soziale Lage. Doch die Religion kann zu einem Faktor werden, wenn etwa Revierkämpfe ausgefochten werden. Wenn zum Beispiel türkische und marokkanische Jugendliche nicht mehr gegeneinander kämpfen, sondern sich gegen Russen oder Deutsche verbünden.


Darüber hinaus gibt es den religiösen Avantgardismus. Die Avantgardisten halten generell Abstand zu traditionellen islamischen Vereinen und sehen sich als Vorreiter einer politisch-religiösen Revolution. Gerade diese Form scheint für arabische Studenten und deutsche Konvertiten besonders attraktiv zu sein. Haben sie sich erst einmal von ihrem familiären Milieu entfernt (biographische Wende), isolieren sie sich und werden so zu einer leichten Beute für radikale Gruppen. Wobei ich hier klar unterscheiden möchte zwischen dem Hang zu einer Islamisierung und den islamistischen Mobilmachungsaufrufen für den internationalen Dschihad.


Unter den islamistischen Avantgardisten gab es früher zwei Gruppen, die kaum Kontakt zueinander hatten: Salafisten und Dschihadisten. Beide verstanden sich als elitär und rekrutierten junge Muslime vor allem aus der Mittelschicht, die als geistig gefestigt galten und über ein gutes Bildungsniveau verfügten. Salafisten waren früher apolitisch und zielten darauf ab, die muslimische Gesellschaft nicht durch politische Aktionen, sondern durch moralische Predigten zu verändern. „Die Politik ist schmutzig, haltet euch davon fern“, war ein salafistischer Grundsatz. Anders als die Dschihadisten grenzten sich Salafisten auch deutlicher von Gewalt ab. Diese Trennung von Salafisten und Dschihadisten gilt heute nicht mehr."

Hamed Abdel-Samad, Der islamische Faschismus, Eine Analyse, Droemer Verlag, 2014, Seite 188 – 190


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