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  • Thilo Sarrazin und FAGULON

Rhetorik und Eitelkeit in der Politik


Ein wichtiger Teil der politischen Wirkung ist die Show. Angesichts der Selektion der Unterdurchschnittlichen in den letzten Jahrzehnten haben die Deutschen so selten den Genuss einer schönen und temperamentvollen Lichtgestalt erleben dürfen, dass sie dem Adelsspross aus Bayern und seiner schönen Frau in Massen zu Füssen lagen. Er war kein Dummkopf und kein Blender, nur ein wenig zu eitel. Dass es nun unbedingt noch ein Doktortitel sein musste, hat ihn schließlich die Karriere gekostet, die sonst geradewegs ins Kanzleramt geführt hätte. Die Neider im Netz fanden Plagiate und die Parteifreunde haben ihn beim Versuch, zu helfen "versehentlich" an der Gurgel erwischt (wie es schon F.J. Strauß so prägnant in anderen Fällen formulierte). Als graue Maus auftreten, nichts sagen, nichts wollen, mit dem Strom schwimmen und alle Konkurrenten leise weg beißen - das hat sich (leider) als langfristigeres Erfolgskonzept herausgestellt.


Zitat: "Wer die Gabe der guten Rede besitzt und damit Menschen für sich gewinnen kann, hat in der Politik einen großen Vorteil. Im Juni 1991 drehte Wolfgang Schäuble mit einer eindringlichen Rede die Stimmung im Bundestag, sodass sich überraschend eine knappe Mehrheit für den Umzug der Bundesregierung nach Berlin fand. 1995 schaffte es Oskar Lafontaine mit einer einzigen so gar nicht geplanten - Rede auf dem Bundesparteitag der SPD in Mannheim, Rudolf Scharping zu stürzen und selbst Parteivorsitzender zu werden. 2005 hielt Gerhard Schröder auf dem Wahlparteitag der SPD eine improvisierte Rede zum „Professor aus Heidelberg“. In wenigen Minuten schwenkte die längst auf Niederlage eingestellte Stimmung im Saal um, der Wahlkampf der SPD nahm Fahrt auf, und Angela Merkel wäre der schon sicher geglaubte Wahlsieg um ein Haar entglitten….


Der politische Alltag stellt den politischen Amtsträgern (und jenen, die es werden wollen) immer wieder größere und kleinere Bühnen zur Verfügung. Die damit verbundene Aufmerksamkeit freut jeden in der Politik Tätigen und gehört praktisch zum Entlohnungssystem in der Politik. Wer zur Eitelkeit neigt, kommt hier leicht in Versuchung.


Eitelkeit an der falschen Stelle hat schon viele politische Karrieren beendet oder gar nicht erst Fahrt gewinnen lassen. Schauen wir uns die Riege der längst vergessenen jungen Männer der CDU an, die sich einstmals informell im »Andenpakt« zusammengeschlossen hatten - darunter Roland Koch, Friedrich Merz, Christian Wulff.


Eine unauffällige Frau aus Ostdeutschland sitzt jetzt statt ihrer im Kanzleramt. Meistens schwieg sie. Aber ein einziger Artikel von ihr in der FAZ genügte, um das Denkmal Helmut Kohl vom Sockel zu stürzen und Wolfgang Schäuble als Parteivorsitzenden zu beerben. All die schönen und zahlreichen öffentlichen Auftritte haben ihren Konkurrenten nicht ins Kanzleramt verholfen. Merkels Vorteil war, dass sie keine Eitelkeit hatte, die ihr im Wege stand, oder dass sie diese eisern zähmte, indem sie einfach schwieg, wenn sie nichts sagen konnte, was wirklich nützlich für sie war. So ist es bis heute geblieben."


Zitat aus: Thilo Sarrazin, Wunschdenken, Deutsche Verlagsanstalt 2016, Seite 446-447

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