Aus heutiger Sicht erscheint der Islam wie ein festgefügtes Gebäude. Er basiert einerseits auf der göttlichen Offenbarung an Mohammed, von der die Muslime glauben, dass sie Wort für Wort den Willen Gottes repräsentiert. Hinzu kommen die Überlieferungen von Aussprüchen, Handlungen und Anweisungen von Mohammed in Form der Hadithe. Damit entsteht natürlich der Eindruck, als wäre dieses Gebäude bereits zu Lebzeiten von Mohammed entstanden und während der nachfolgenden schnellen Eroberung weiter Teile des arabischen und nordafrikanischen Raumes nur verfestigt worden. Wie auch bei der historisch-kritischen Analyse der Bibel fördern die Historiker jedoch Erstaunliches zutage. Vieles davon ist für Gläubige der orthodoxen Richtungen des Christentums unerträglich, weil es ihre Glaubenswahrheiten in den Grundfesten erschüttert. Genauso ergeht es den meisten Muslimen. In beiden Fällen führt das dazu, dass die Erkenntnisse der Historiker von den Gläubigen ignoriert werden (müssen).
Zitat 1
Es kann einem schon einen Schock versetzen, wenn man feststellt, dass bis auf eine einzige Ausnahme keine Beschreibung der Schlacht von Badr erhalten ist, die früher als auf das 9. Jahrhundert n. Chr. zu datieren wäre. Nicht einmal das Original von Ibn Ishaqs Mohammed-Biographie ist auf uns gekommen wir kennen nur Überarbeitungen. Das Material, auf das Ibn Ishaq sich mit seinen Nachforschungen stützte, ist längst verschwunden. Hält man den Siegesjubel der arabischen Historiker im 9. Jahrhundert dagegen, ganz zu schweigen von den darauffolgenden Jahrhunderten, dann macht dieses Schweigen einen geradezu ohrenbetäubenden, jedenfalls höchst verwirrenden Eindruck. Man muss sich die Sachlage nur einmal klar vor Augen führen. Innerhalb eines Zeitraums von fast 200 Jahren hatten die Araber, ein Volk, das ja nie vor allem wegen seiner Introvertiertheit bekannt war und, wie uns versichert wird, von einem verzehrenden Bewusstsein religiöser Gewissheit angetrieben war, sich das Ziel gesteckt, die Welt zu erobern - und haben doch in dieser gesamten Zeit nicht eine einzige Aufzeichnung ihrer Siege erstellt: es gibt kein Zeugnis dieser Art, das bis in die Gegenwart erhalten geblieben wäre.
Wie ist das möglich, wo doch zur gleichen Zeit selbst an den barbarischsten Rändern der Zivilisation, sogar in Britannien, im Norden Englands Bücher über Geschichte abgefasst, kopiert und mit liebevoller Sorgfalt aufbewahrt wurden? Wenn die wilden Northumbrier in der Lage waren, die Schriften eines Gelehrten wie Beda aufzubewahren, warum haben wir keinerlei muslimische Aufzeichnungen aus der Epoche Mohammeds? Warum gibt es aus den nahezu zwei Jahrhunderten nach seinem Tod keine einzige arabische Darstellung seines Lebens, nichts über die Eroberungen seiner Nachfolger, nichts über die Ausbreitung seiner Religion?.....
Zitat 2
Der Aufstieg des Islam gehört zu den bedeutendsten Umwälzungen der Weltgeschichte, das liegt auf der Hand. Umso niederschmetternder ist die Erkenntnis, dass das Einzige, was wir an schriftlichen Zeugnissen aus der Zeit vor 800 n. Chr. besitzen, entweder nur Schnipsel von Schnipseln sind oder das trügerische Flimmern von Luftspiegelungen. Natürlich entsteht ein politisches Imperium nicht lautlos, aber was uns heute an Zeugnissen über die Gründung des Kalifats vorliegt, nicht mehr als Schall und Wahn, es sind Geschichten, die Jahrhunderte später erzählt wurden und, wenn überhaupt, dann nur sehr wenig Aussagekraft besitzen. Die Stimmen der arabischen Krieger, die den alten Imperien Persien und Rom den Garaus machten, die Stimmen ihrer Söhne und Enkel, zu schweigen von denen ihrer Töchter und Enkelinnen – sie alle wurden radikal und für immer zum Schweigen gebracht. Es gibt keine Briefe, keine Reden, keine Tagebücher - falls etwas dergleichen damals überhaupt verlasst wurde die erhalten geblieben wären; keinen Hinweis auf das, was die Menschen, die die Gründung des Kalifats miterlebten, gedacht, gefühlt oder geglaubt haben könnten. Es ist, als hätten wir keinerlei Augenzeugenbericht aus der Zeit der Reformation, der Französischen Revolution oder der beiden Weltkriege.
Da kann es nicht erstaunen, wenn ein führender Historiker die Art, wie der Islam sich im 9. und 10. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung schließlich seine eigene Vergangenheit konstruierte und seinem Aufstieg zur Weltmacht die ihm genehme Interpretation gab, mit den Worten beklagte: Es handle sich hier um »den Verlust der ältesten Überlieferungsschichten“, was »einer Katastrophe gleichkommt«. Die Entstehung des Islam fand also ganz und gar nicht im hellen Licht der Geschichte statt; sie war vielmehr, so der Eindruck einer immer größeren Gruppe von Spezialisten, in nahezu undurchdringliches Dunkel gehüllt.
Nun darf hier natürlich kein Missverständnis aufkommen: Nur sehr wenige Gelehrte würden so weit gehen zu behaupten, dass der Prophet selbst nie gelebt hat. Einen Mann namens Mohammed gab es im Bewusstsein seiner Beinahe-Zeitgenossen mit Sicherheit. Eine christliche Quelle erwähnt »einen falschen Propheten«, der die Sarazenen bei einer Invasion in Palästina anführte. Der Text stammt von 634 n. Chr., wurde also nur zwei Jahre nach dem allgemein als Todesjahr Mohammeds angenommenen Datum verfasst. Ein weiteres, sechs Jahre später verfasstes Zeugnis erwähnt ihn namentlich. In den dann folgenden Jahrzehnten schrieben mehrere Priester und Mönche von einer rätselhaften Gestalt, die sie teils als »General«, teils als » Lehrer« oder als »König“ der Araber bezeichneten. Diese kryptischen Anspielungen lassen jedoch - abgesehen davon, dass sie alle von Nichtmuslimen stammen - die vollständige Abwesenheit irgendwelcher frühen muslimischen Bezugnahmen auf Mohammed nur umso deutlicher hervortreten.
Zitat aus: Im Schatten des Schwertes. Mohammed und die Entstehung des arabischen Weltreiches. Tom Holland, übersetzt aus dem Englischen von Susanne Held, Klett-Cotta 2012, Seite 51-53
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