Es ist nicht erstaunlich, dass sich die frühen arabischen Herrscher bald darauf besannen, dass sie die Regeln ihrer Macht mit einem heiligen Buch begründen mussten, damit diese gerechtfertigt und auf Dauer etabliert werden konnte. Nicht nur Juden und Christen, sondern viele andere Religionen hatten bereits vor ihnen solche heiligen Bücher. Deshalb war es an der Zeit, die lange vernachlässigten Texte des Koran zu sammeln und zu editieren. Hinzu kamen natürlich auch die früh einsetzenden Rivalitäten und Kriege zwischen Mohammeds Nachfolgern, die bis in die heutige Zeit - u.a. in Form der Spaltung zwischen Sunniten und Shiiten - anhalten. Wer also eine gültige Fassung der Offenbarungen Gottes vorweisen konnte, war eindeutig im Vorteil beim Kampf um die Macht.
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Aber noch mehr bedeutete das Arabische für Abd al-Malik. Arabisch war nach seiner frommen Überzeugung die für sein Reich angemessene Sprache, weil es auch die Sprache Gottes war. Mit glänzendem Gold geschriebene Texte schmückten die Wände des Felsendoms und verkündeten die zentralen Lehren der Religion des Amir: das Prophetentum Mohammeds und den Irrwitz der verblendeten Christen, zu glauben, Gott sei als Dreifaltigkeit vorstellbar. Viele Inschriften waren Auszüge der Offenbarungen des Propheten: Wir haben hier die ersten erhaltenen Beispiele für Passagen aus dem Koran. Später galt allgemein, Uthman habe Jahrzehnte zuvor als erster die einzelnen Stücke gesammelt und zusammengesetzt und daraus das erstellt, was künftig eine voll ausgeformte heilige Schrift sein sollte - doch die Versfragmente, die Abd al-Malik am Felsendom anbringen ließ, legen ganz andere Schlüsse nahe, ebenso wie das eklatante Fehlen auch nur einer einzigen Koraninschrift aus den Jahren der Herrschaft seiner Vorgänger und schließlich verstreute Hinweise von Zeitgenossen.
Als christliche Gelehrte erstmals Notiz von der Existenz von Texten nahmen, die Mohammed zugeschrieben wurden, sprachen sie nicht von einem in sich geschlossenen Buch, sondern von einem Konglomerat von Fragmenten mit Titeln wie »Die Kuh«, »Die Frau« und »Gottes Kamel-Stute«. Wenn das zutrifft - wer war es dann, der diese diversen Textfragmente aufspürte und zusammensetzte? Zur Zeit der Herrschaft Abd al-Maliks wurde der Koran einer gründlichen, staatlich veranlassten Überarbeitung unterzogen. Dies würde kein späterer muslimischer Gelehrter bestreiten.
Als treibende Kraft bei diesem Editionsprozess wirkte, wie in so vielen anderen Bereichen, al-Hajjaj. Die Nachwelt sollte ihn nicht nur als einzigartigen Krieger und gefürchteten Statthalter in Erinnerung behalten, sondern auch als den ersten Lektor des Koran. Einige Überlieferungen schrieben ihm allerdings eine wesentlich erstaunlichere Rolle zu. Als ihm vorgehalten wurde, Gott habe nicht zugelassen, dass Seine Pläne nach dem Tod Mohammeds weiterhin durch die Vermittlung von Menschen verbreitet wurden, soll Al-Hajjaj scharf erwidert haben: »Ich arbeite ausschließlich aufgrund von Inspiration!«
Und als treuer Diener, der er schon immer gewesen war, betonte er darüber hinaus, seine eigene Rolle beim Sammeln, Zusammenstellen und Verbreiten der Offenbarungen Mohammeds, so abgesegnet von höchster Stelle sie auch sein mochte, sei völlig unbedeutend im Vergleich mit der Leistung Abd al-Maliks. Al-Hajjaj erklärte rundheraus, sein Herr stehe in den Augen Gottes höher als die Engel und Propheten«.
Diese Auffassung war natürlich ganz im Sinne des Gebieters der Gläubigen selbst, der sich ja noch nie als Ausbund von Bescheidenheit hervorgetan hatte. Das Zeitalter der Propheten mochte ja beendet sein, doch das bedeutete nach Meinung Abd al-Maliks nicht, dass Gott nicht weiterhin eines auserwählten Vertreters auf Erden bedurfte. Er setzte Münzen ein, sein Lieblingsmedium, um der Welt zu verkünden, wie genau seine Funktion zu verstehen war: als Khalifat Allah, als »Stellvertreter Gottes.
So wie Mohammed erwählt war, Gottes Wort zu offenbaren, so war Abd al-Malik berufen, es zu interpretieren und den Menschen zu verkünden - und wer wollte letztlich entscheiden, wem die schwerer wiegende Verantwortung zugefallen war? Der Titel »Kalif«, der der staunenden Öffentlichkeit erstmals durch Abd al-Maliks staatlich bestellte Münzpräger präsentiert wurde, suggerierte die Herrschaft über Reiche, die im gleichen Maß übernatürlich wie irdisch waren.
Zitat aus: Im Schatten des Schwertes. Mohammed und die Entstehung des arabischen Weltreiches. Tom Holland, übersetzt aus dem Englischen von Susanne Held, Klett-Cotta 2012, Seite 393
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