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Marc DeSargeau und FAGULON

Was treibt Finanzjongleure wirklich an?


„Neoliberale Wirtschaftstheorien und die darauf basierende massive Lockerung der Regulierung und Kontrolle haben eine entfesselte und entwurzelte Finanzwirtschaft ermöglicht. Aufgrund der hohen Gehälter und Boni der Spekulanten, die auf diesem Gebiet arbeiten, gilt es als ausgemacht, dass ungehemmte Geldgier der entscheidende Antrieb des Handelns dieser Leute ist. Das ist ein simples Vorurteil, welches die wichtigsten, recht unspektakulären Motive und psychologischen Mechanismen verschleiert. In Wahrheit werden die Spieler in den Kasinos der internationalen Finanzmärkte nicht primär von Geld- oder Machtgier, sondern vom Zusammenwirken dreier Mechanismen der institutionalisierten kollektiven Verantwortungslosigkeit beherrscht.


Erstens handelt es sich um die operativen und psychologischen Regeln innerhalb der institutionellen Hierarchie einer Bank oder eines Investmentfonds. Dabei ist das Individuum einem dreifachen Druck ausgesetzt: Der Gruppenzwang und die Konkurrenz im Milieu der Gleichgestellten wirkt mit dem Erwartungsdruck der Vorgesetzten und der Ungeduld der Untergebenen zusammen. Die Letzteren warten nur auf einen Fehler oder unterdurchschnittliche Profite, um am Stuhl desjenigen zu sägen, der ihnen jetzt noch übergeordnet ist und das Ansehen, die Macht und das Einkommen besitzt, welches sie selber gerne hätten.


Zweitens sind sie alle dem unerbittlichen Sog der Unmengen billigen Geldes unterworfen, welches jeden Tag um die Welt gejagt wird und einer Art von Schwerkraft folgt. Es lässt sich mit Wasser vergleichen, dessen Flussrichtung durch die Gravitationskraft bestimmt wird, wobei schon kleinste Höhenunterschiede ausreichen, um seinen Lauf umzulenken. Wenn man die Schwerkraft durch die Anziehungskraft der besten Rendite ersetzt, kann man den schnell wechselnden Fluss des Geldes durch die verschiedenen Kanäle des Finanzmarktes gut verdeutlichen. Dieser Kraft müssen alle hierherjagen, welche in den Finanzhauptstädten der Welt täglich Hunderte Milliarden Dollar oder Euro per Knopfdruck auf die Reise schicken. Allerdings ist schwer auszumachen, wo die Schwerkraft der Rendite gerade ihre größte Anziehung ausübt.


Also kommt der Psychologie des Schwarmverhaltens eine riesige Bedeutung zu: Wo alle hinlaufen und investieren, muss ja wohl etwas zu holen sein. Wo alle ihr Geld abziehen, droht offenbar Gefahr. Wie bei Schwärmen von Fischen und Vögeln, hat sich auch bei psychologischen Experimenten zum menschlichen Schwarmverhalten gezeigt, dass ein Schwarm seine Richtung ändert, wenn er einem starken Anführer folgt oder wenn 6-8 der unmittelbaren Nachbarn eines Individuums bzw. rund 10% des Schwarmes plötzlich einen anderen Weg einschlagen.


Drittens befinden sich die Spieler in den Kasinos des Finanzmarktes in erbitterter sportlicher Konkurrenz mit anderen Spielergruppen. Der Kampf zwischen Rudeln junger Spekulanten aus den verschiedenen Firmen ist durchaus dem von Hochleistungssportlern im Fußball zu vergleichen. Sie spielen nicht primär wegen ihres guten Gehaltes und der Siegprämien. Ihnen geht es darum, in der Hierarchie der verschiedenen Meisterschaftstabellen möglichst weit oben zu landen, vielleicht sogar irgendeinen Pokal in den Händen zu halten. In der nächsten Saison geht das gleiche Spiel wieder von vorne los. Einige Spieler, Trainer und Fans verhalten sich so, als ginge es beim Auf- oder Abstieg ihres Vereins um das Überleben der menschlichen Zivilisation. Muss der sportliche Ehrgeiz von Börsenspekulanten nicht noch viel größer und brutaler sein? Hier geht es zwar auch um Tabellenplätze, die sich im Börsenkurs, den Quartalsgewinnen und den Boni ausdrücken. Allerdings haben diese Spiele auch massive Auswirkungen auf die Realwirtschaft und das Leben von Millionen, vielleicht sogar Milliarden von Menschen auf der ganzen Welt.

Die jungen Männer, welche in der jüngsten Vergangenheit jeweils Milliarden innerhalb weniger Tage verspielten und ihre Banken in den Ruin trieben, befanden sich am unteren Ende der institutionellen Hierarchie. Ihre Gehälter und Boni waren vergleichsweise klein. Sie konnten auch beim Erfolg ihrer waghalsigen Spekulationen wenig zusätzliches Geld für sich selbst erwarten.


Nach ihrer Verhaftung zeigte sich in den Vernehmungen überraschend klar: Ihr Antrieb war der kompetitive Ehrgeiz, es den anderen "jungen Hunden" der Konkurrenz und in der eigenen Firma einmal zu zeigen. Es war das gleiche Motiv wie bei einem extrem ehrgeizigen Sportler, der nicht nur eifrig trainiert, sondern auch noch geschickt verschiedene Dopingmethoden verwendet, um seine Konkurrenten innerhalb und außerhalb der eigenen Mannschaft zu übertreffen. Insofern unterschieden sich die jungen Spekulanten in ihrem Motiven auch nicht von denen der Vorstände von Banken, die ihre Institutionen in den Ruin spekulierten und sich vom Staat retten lassen mussten: Im Schutze der institutionalisierten kollektiven Verantwortungslosigkeit will man besser und schneller spielen als die anderen.“


Zitat aus: Marionetten, Neo-Stalis und Monsterwellen, Marc DeSargeau, FAGULON-Verlag 2021

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